Kategorie: Neue Musik – Werke

Ecce Homo für Akkordeon

Ecce Homo - für Akkordeon und Sprecher (mit einem Text von Matthias Claudius) (2017 / 12')
Live-Mitschnitt der Uraufführung
24.11.2017 in der Kirche St. Ludwig, Celle
Jan Skorupski, Akkordeon
Brita Rehsöft, Sprecherin
"Ecce Homo" entstand als Beitrag zu einer Aufführung der "Musikalischen Exequien" von Heinrich Schütz im Jubiläumsjahr der Reformation 2017. Idee des Konzertes war, dieses Schlüsselwerk reformatorischer Kirchenmusik durch zeitgenössische Beiträge zu kommentieren.
Die von Schütz vertonten Psalmworte: "Unser Leben währet siebenzig Jahr, und wenn's hoch kömmt, so sind's achtzig Jahr ..." erinnerten mich an das wunderbare Gedicht "Der Mensch" von Matthias Claudius; der "Vitruvianische Mensch" von Leonardo da Vinci wies die Richtung zu einer fünfteiligen Anlage der Komposition; und die Schlußakkorde des ersten Teils der Exequien legten es nahe, den E-Dur-Akkord als Tonmaterial zu verwenden.
Wenn auch in einem konkreten Zusammenhang entstanden, versteht sich "Ecce Homo" als eigenständiges Stück Neuer Musik: "Was ist der Mensch, daß du an ihn denkst" (Ps. 8)

Der Mensch
 
Empfangen und genähret
     Vom Weibe wunderbar
Kömmt er und sieht und höret
     Und nimmt des Trugs nicht wahr;
Gelüstet und begehret
     Und bringt sein Tränlein dar;
Verachtet und verehret,
     Hat Freude und Gefahr;
Glaubt, zweifelt, wähnt und lehret,
     Hält nichts und alles wahr;
Erbauet und zerstöret
     Und quält sich immerdar
Schläft, wachet, wächst und zehret;
     Trägt braun und graues Haar.
Und alles dieses währet,
     Wenn's hoch kömmt, achtzig Jahr.
Dann legt er sich zu seinen Vätern nieder,
Und er kömmt nimmer wieder.   
 
                   Matthias Claudius (1740-1815)

Eine kurze Meditation über die Zeit

Eine kurze Meditation über die Zeit 
für Sopran und Streichquartett nach Texten von Stephen Hawking, Jochen Klepper und dem Buch Kohelet (2019 / 18') 

Das Werk erhielt 2020 den Kirchenmusik-Kompositionspreis der Stadt Neuss.

Die Uraufführung war am Sonntag, den 20.September 2020 in der Christuskirche, Neuss. Die künstlerische Leitung hatte Kantorin Katja Ulges-Stein

Eine weitere Aufführung ist am Freitag, den 19.November 2021, 21:00Uhr im Rahmen der Konzertreihe Nachtklänge in der St. Ludwigskirche, Celle, Julius-von-der-Wall-Strasse geplant. - Hoffen wir, dass die Pandemie das Konzert zuläßt.
Weitere Informationen bitte bei dekanatskirchenmusiker@dekanat-celle.de anfragen

Informationen zum Kirchenmusik-Wettbewerb der Stadt Neuss:

https://www.neuss.de/kultur/kirchenmusikalischer-kompositionspreis-2020

Zum Stück: 

Der Titel und das Konzept von "Eine kurze Meditation über die Zeit" sind angeregt durch den Bestseller "A Brief History of Time" von Stephen Hawking. Nach Hawking nähert man sich der Frage, was Zeit ist, indem man das Universum und seine Entstehung erforscht. Wer dies tut, stößt am Ende auch auf die Frage nach Gott.
Inspirierend waren Hawkings Erklärungen von der Zeit als einer flexiblen Größe: 
"The theory of relativity put an end to the idea of absolute time! It appeared that each observer must have his own measure of time, as recorded by a clock carried with him, and that identical clocks carried by different observers would not necessarily agree."
 
Auch das biblische Buch Kohelet aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. handelt von der Zeit in Beziehung zum Universum (zur Sonne, zum "Himmel"). Es geht dabei vor allem um die begrenzte Lebenszeit des Menschen, die von Gott zugeteilt wird:  
"Alles hat seine Zeit. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit."
Bemerkenswert ist die Sichtweise vom Ablauf der Zeit als ewige Wiederkehr von Gleichem:
"Es gibt nichts Neues unter der Sonne" und
"Was auch immer geschehen ist, war schon vorher da, und was geschehen soll, ist schon geschehen"
Aus der fatalistisch anmutenden Anschauung erwächst die Erkenntnis, daß der Mensch seine Lebenszeit nicht nur gut nutzen sollte, sondern auch genießen darf:
"Aber immer, wenn der Mensch (...) das Glück kennenlernt, ist auch das ein Geschenk Gottes"
 
Musik, als Kunst der Zeitgestaltung, ist wie kein anderes Medium dafür prädestiniert, über die Zeit zu reflektieren. Der Titel "Meditation" ist auch eine Referenz an Olivier Messiaen und seine Idee von der "Gleichzeitigkeit der Zeiten". 
Kompositorische Grundidee sind Modulationen zwischen zeitlichen Abläufen und metrischen Pulsen. Das Tonmaterial ist aus den leeren Saiten von Violine und Viola entwickelt, und bietet mit seinen übermäßigen Sekunden und festen und beweglichen Tonstufen ein orientalisch anmutendes Ambiente für den, oft psalmodisch rezitierten, Bibeltext. 
 
Das Stück hat zwei Haupteile: Der erste macht den Ablauf der Zeit in der "Gleichzeitigkeit der Zeiten" und in der ständigen Wiederkehr von Vergangenem hörbar. Dabei entsteht die Vorstellung von verschiedenen Fenstern, die sich abwechselnd in unterschiedliche Realitäten öffnen.
Der zweite Hauptteil ist als große Melodie gestaltet. Er verwendet dasselbe Tonmaterial und auch das Verfahren der Umdeutung von Notenwerten. Hier wirkt es aber üppig und "romantisch" -  es geht um die Sehnsucht nach Glück im unsicheren Gang der Zeit.
Den Rahmen bilden zwei einfache Strophen nach einem Liedtext von Jochen Klepper, die den Segen des ewigen Gottes für unseren Weg durch die Lebenszeit erbitten.
 
Die drei Textebenen werden durch drei Sprachen hervorgehoben: deutsch für den Liedtext, lateinisch/deutsch für die Bibeltexte und englisch für die Zitate von Stephen Hawking. Für letztere treten die Streichquartettspieler aus ihrer Musikerrolle heraus und übernehmen dramaturgische Funktion, die auch schauspielerisch angedeutet werden kann. 
 
Das Stück bleibt mit den unbeantworteten Fragen nach der Zeit, nach der Welt und nach Gott in der Schwebe; und es wird jenseits aller religiösen Rechthaberei die Hoffnung formuliert, es möge jemand da sein, der hilft, "damit wir sicher schreiten". 
 
                                                                                              Celle, den 16. Dezember 2019
                                                                                              Klaus-Hermann Anschütz
Die Begründung für die Preisvergabe der Fachjury unter Vorsitz von Dr. Thomas Daniel Schlee im Wortlaut:
"Überzeugend wirkt die gedankliche Erweiterung der vorgegebenen Texte, die durch die Mehrsprachigkeit eine reizvolle Färbung erfährt.
Die große Palette der musikalischen Elemente gewinnt durch die bewusste Gestaltung an Profil. Das Thema „Zeit“ ist in vielfältigem Umgang mit irrationalen Metronomverhältnissen in origineller Weise präsent."

Kreislauf

Kreislauf - für Bläserquintett (Flöte, Oboe, Klarinette in B, Horn in F, Fagott) 
und Tontechnik (2014, 11')
Uraufführung am 18.12.2015
in der St. Ludwigs-Kirche, Celle
mit
Anne Mareike Bischof, Flöte
Friederike Kayser, Oboe
Sebastian Wendt, Klarinette
Elena Kakaliagou, Horn
David Schumacher, Fagott
Klaus-Hermann Anschütz, Tontechnik
Zum Stück:

Stonehenge, das Pantheon, das Labyrinth von Chartres - Archaische Kreisformen und repetitive Muster üben auf mich eine große Faszination aus. Gleiches gilt für manche Wiederholungsstrukturen in der Musik: Passacaglien und Ostinati, bestimmte Strophenformen, wie z.B. der "kugelförmige" Hymnus "Iam Christe, sol Iustitiae" ... - "Zwar gibt es bisweilen etwas, wovon es heißt: Sieh dir das an, das ist etwas Neues - aber auch das gab es schon in den Zeiten, die vor uns gewesen sind" (Koh. 1,10). Und: "Gott ist die unendliche Kugel, deren Mittelpunkt überall und deren Umfang nirgends ist." (Buch der 24 Philosophen)
 
Unmittelbar zur Komposition angeregt wurde ich durch das neue Fenster im südlichen Querhaus des Kölner Domes: Ich finde die originelle Verbindung christlicher Tradition und postmoderner Kunst, 
den Dialog der zufälligen und anonymen Farben und Muster mit der gleichsam schicksalhaft vorgegebenen Kirchenarchitektur überaus spannend. Und von der Sonne hinterleuchtet sieht das Fenster prachtvoll aus!
 
In Analogie zum Vorbild Gerhard Richters habe ich bei der Komposition von Kreislauf Zufallszahlen eingesetzt. Die Ergebnisse wurden jeweils Ton für Ton auf "Gefallen" oder "Nichtgefallen" überprüft, sowie in gleichartige Verläufe, die sich fugenartig überlappen, eingepasst. Jeder der quasi Fugeneinsätze entwickelt sich aus dem Nichts zurück in das Nichts. - Als Vorbild für diese uniforme dynamische Struktur habe ich das Kyrie aus dem Requiem von György Ligeti gewählt. 
Als weitere Einbruchstelle für das Zufällige und Unverfügbare, habe ich nachträglich Teile der ursprünglich präzise notierten Abläufe in eine offene Notationsform umgewandelt.
 
Bei der Aufführung werden die entstandenen musikalischen "Lebensläufe" von verschiedenen Spielorten aus vorgetragen. - Man kann sich dabei vorstellen, dass man - wie in Chartres - ein Labyrinth abschreitet um in den geheimnisvollen Windungen einen Sinn oder ein Ziel zu entdecken. Für die zeitliche Koordinierung sorgen, nur für die Musiker hörbar, Ansagen auf mp3-Playern. 
Nach einer Weile bricht der Kreislauf der Kreisläufe auf: Es folgt eine wie improvisiert klingende Melodie der Flöte - eine feierliche Hornfanfare (beide aus den intervallischen Bestandteilen des Hymnus "Iam Christe, sol iustitiae" gewonnen) - Ruhepunkt, Steigerung, Abbruch...
 

Drei geistliche Lieder

Drei Geistliche Lieder - für Sopran und Klavier nach Texten von
Paula Ludwig, Lothar Zenetti und Otmar Schulz für Sopran und Klavier, (2018, 17’)
Mitschnitt der Uraufführung am 22.02.2019
in der St. Ludwigs-Kirche, Celle
Sophia Körber, Sopran
Daniel Rudolph, Klavier
Zum Stück:
 
Drei geistliche Lieder über lyrische Texte, die nach einem Du, nach dem Wunder des Lebens, nach Gott fragen. Jedes der drei Lieder geht von einem begrenzten Tonvorrat aus:  "...und nur fünf Töne". Die beiden Zwischenspiele lassen den vorigen Klang vergessen und den nächsten entstehen. Sie bilden in ihrem distanzierten Charakter einen Gegensatz zu den emphatischeren und expressiveren Liedern: Man kann sich neutral-weiße Zwischenräume zwischen drei farbigen Bildern vorstellen.
Die Drei geistlichen Lieder können als Zyklus oder einzeln in kirchlichen oder nichtkirchlichen Konzerten aufgeführt werden. 
Die Uraufführung war am 22.02.2019 im Rahmen der Konzertreihe "Nachtklänge" in der Kirche St. Ludwig, Celle, durch Sophia Körber, Sopran und Daniel Rudolph, Klavier. Vielen Dank für die wunderbare Zusammenarbeit!
Celle, den 14.03.2019, 
Klaus-Hermann Anschütz
 

Texte der Lieder: 
 
Ich kann nur die Flöte spielen
und nur fünf Töne
 
Wenn ich sie an die Lippen hebe
kehren die Karawanen heim
und in dunklen Scharen die Vögel
 
Dann rudern die Fischer ans Ufer
und aus den Morgenländern kommt duftend
der Abend zurück
 
Am Stamme des Ahorns lehn ich
im Schatten des Efeus
und sende mein Lied nach dir aus
 
            Paula Ludwig aus "Dem dunklen Gott. 
            Ein Jahresgedicht der Liebe", 1931
 
 
 Lebenszeichen
 
In einer der üblichen 
Konferenzen, die irgendeine 
mehr oder minder bedeutsame 
Institution aus welchen Gründen 
auch immer für wichtig erachtet, 
und wo sich – alles in allem – 
nicht einmal gar nichts bewegt,
 
kroch mir, wie ich da saß, ein 
Marienkäferchen über den Ärmel, 
wagte sich dann hinab auf den 
Tisch und entschloß sich sogar, 
dort ein Papier (eine riesige 
Fläche für dieses winzige Wesen) 
zu überqueren. Schwarz und rot, 
somit selber gepunktet, lief es 
hinweg über sämtliche Punkte 
der Tagesordnung, ohne denselben 
weiter Beachtung zu schenken.
 
Käferchen, denk’ ich, liebes 
Mariechen, wie schön, dass du 
lebst, und ich darf es wohl auch: 
leben, mein ich, trotz allem.
Doch schau: jetzt entfaltet’s 
zur Probe die Flügel, und 
schon fliegt’s davon, dieses 
winzige Wunder des Lebens an 
diesem ganz gewöhnlichen Tag.
 
           Lothar Zenetti aus "Wir sind noch zu retten", 1989


Fragst du mich
 
Fragst du mich nach Gott, mein Kind:
wir atmen ihn ein und atmen ihn aus; 
er ist in der Nähe und er ist fern,
er ist uns vertraut und bleibt immer fremd.
 
Fragst du mich nach dem hellen Gott:
Er ist die Sonne, das Meer, der Wind,
er ist die Blume, die Wiese, der Wald,
er ist das Lachen und auch das Glück.
 
Fragst du mich nach dem dunklen Gott:
Er ist der Hunger und er ist der Krieg;
er ist das Weinen, die Schwermut, das Leid,
er ist die Angst und ist auch der Tod.
 
Der helle Gott und der dunkle Gott
sind ein und derselbe, untrennbar vereint.
Gott ist das alles und mehr noch als alles,
er ist eben Gott, mein Kind.
 
           Otmar Schulz, 2004